Hiiuma: Die Insel der Frauen

Frauenpower – auf der estnischen Insel spielen Männer keine Rolle

Sie lässt sich Zeit mit der Antwort. Kurz schweift ihr Blick zu der Gruppe Birken am Wegesrand hinüber, die Stirn legt sich langsam in Falten, um den Mund macht sich ein Lächeln breit, ein verschmitztes Lächeln. Und die passenden Worte folgen prompt: „Sagen wir 64 und ein bisschen mehr“, beantwortet sie die Frage nach ihrem Alter mit dieser Mischung aus skurril und lakonisch, die an Filme des finnischen Regisseurs Aki Kaurismäki erinnert. Bis zu den Finnen ist es ja nicht weit – 80 Kilometer über den finnischen Meerbusen. Eng verwandt ist die eigene Sprache mit dem Finnischen ohnehin. Eigentlich ist Anu-Maie Jõgi schon über 70, aber wen interessiert das schon?

Junge Estinnen auf Hiiumaa pflegen die Folklore

Junge Estinnen auf Hiiumaa pflegen die Folklore

Auf Hiiumaa, der zweitgrößten von drei Inseln, etwa 22 Kilometer westlich vor Estlands Küste gelegen, leben 12000 Menschen. Sie nutzen ihre wieder gewonnene Freiheit und sprießen vor Ideen und Tatendrang. Auch Frau Jõgi hat eine Idee gewinnbringend weiterentwickelt. Sie stellt Konfitüre aus Karotten, Orangen, Hagebutten und Waldkräutern her und verkauft sie auf der Insel und in Supermärkten auf dem Festland. Vor 15 Jahren, kurz nach der estnischen Unabhängigkeit, erfand sie ihre spezielle Rezeptur. Wie damals zieht sie auch heute durch die Wälder der Insel und pflückt ihre Zutaten selbst. Pihla Thalu heißt Frau Jõgis alter Bauernhof, der inmitten des Waldes liegt. Vor dem Haus sind die Tische üppig gedeckt. Frühstücksgäste probieren Marmeladen und frischgebackenes Brot, aber auch winzige Schollen, die in ihrer Form der Insel gleichen. „Manche sehen in Hiiumaa die Form eines Kreuzes“, sagt die einstige Top-Langläuferin im Orientierungslauf, andere meinen, sie habe die „Form eines Vogels mit einem langen Hals, der gerade zur Landung ansetzt“. Die Estin lässt offen, wie sie das sieht. Aber an die Legende, dass der Name Hiiumaa vom Wort „hiiud“ – Riesen, Helden – abstammt, daran glaubt sie ganz fest, es ist ihre „Insel der Riesen“.

„Hiiumaa ist auch die Insel der Frauen“, sagt Urve Merendi, die als Reiseleiterin jeden Winkel ihres Eilands kennt. „Die Männer arbeiten auf dem Festland, fahren zur See oder haben neuerdings Jobs in Irland.“ Das habe Tradition, sagt Frau Merendi, deren Urgroßvater mit einer Deutschen verheiratet war. Ein Indiz für die lange Fremdherrschaft – mal wehte über Estland die dänische, schwedische, russische oder eben deutsche Flagge. Die Frauen kamen auf der Insel meist ohne die Männer aus, ob beim Folkloretanz, in den Fischereien, bei der Kindererziehung oder in der Gastronomie: Wie Margit Kääramees, die seit 13 Jahren auf ihrem Bauernhof „Mäeotsa“ in der Nähe des Ortes Orjaku mehrere Zimmer und ein kleines Landhaus anbietet.


In dem großen Garten unter knorrigen alten Laubbäumen steht ein langer Holztisch mit regionalen Köstlichkeiten: Fischsuppe, Brot, Käse, selbst gebackener Kuchen. „Wir lieben unsere Gäste“, sagt die agile Gastgeberin, und wie in Estland üblich spielen Position und Bankkonto der Gäste keine Rolle, alle werden gleich freundlich behandelt, ob Manager oder Arbeiter. Ihre Gäste kommen aus Schweden, Finnland, England, aus Deutschland und vom Festland. Kein Wunder, denn so abgelegen der Ort auch scheint, so modern vernetzt ist Frau Kääramees – dem Internet sei Dank. Wie die meisten ihrer Landsleute: Jedes noch so kleine Unternehmen, jede Unterkunft – alle sind über Google zu finden, bestätigt Urve Estlands Ruf als führendes Hightech-Land.

Von der Halbinsel Kassari aus, das die Insulaner auch „unser Mallorca“ nennen, „weil das Wasser wärmer und der Himmel blauer ist“, erklärt Inselguide Urve, führt die Straße an der mit Schilfgras übersäten und von zahllosen Vogelarten bevölkerten Bucht von Käina entlang nach Süden Richtung Emmaste.

Weiter endlos lang durch dichten Kiefernwald zum westlichen Zipfel der Insel nach Kõpu. 60 Prozent von Hiiumaa sind mit Kiefer-, Laub- und Fichtenwäldern bedeckt – es ist die waldreichste Region Estlands. Kein Wunder, dass sich hier die Tierwelt heimisch fühlt. Einen Bären haben sie zwar nicht mehr, dafür einen Wolf, 250 Elche, 200 Rothirsche, zahlreiche Luchse und Hunderte von Rehen und Wildschweinen. Von Kõpu aus führt kein Weg am 500 Jahre alten Leuchtturm vorbei, dem drittältesten noch betriebenen weltweit und zugleich Symbol der Insel. Wie eine beleibte Dame mit einem roten Zopf und glitzernden Augen sieht der Turm von weitem aus. „Das Meer ist hier sehr niedrig, die Schiffe laufen Gefahr zu stranden“, weiß Urve aus vielen Seemanns-Geschichten, die um den auf einem 68 Meter hohen Hügel thronenden Leuchtturm ranken.


Nahe der Ortschaft Vaemla steht ein langes weißes Herrenhaus aus dem 19. Jahrhundert – Sitz des Familienunternehmens Hiiu Vill. Hier taucht man ein in eine andere Welt, in der die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Über 100 Jahre alte Maschinen, die Wolle in Garn umwandeln, prägen den langen Raum, an dessen Ende ein kleines Podest mit Ehrungen und Insignien aus der Sowjetzeit thront. Seit 1992 betreiben Tiiu und Jüri Valdma ihre Spinnerei, 25 bis 30 Kilogramm Garn stellen sie täglich her. Jüri ist stolz auf die Maschinen. Viel reden tut er nicht, er hat dieses Hiiuma-Lächeln, vieldeutig und anziehend zugleich. So wie seine Frau, die im Laden nebenan Strickjacken, Wollsocken und -handschuhe sowie andere Wollprodukte verkauft. Fast alles selbst entworfen, denn Tiiu ist eine Künstlerin, so wie die meisten Frauen auf Hiiumaa.

 Mehr Information
www.visitestonia.com, www.hiiumaa.ee

Übernachtung:
Pihla Bauernhof, preiswerte Ferienwohnungen mit selbstgebackenem Kuchen und exzellenter Konfitüre
www.pihlatalu.ee,

Mäeotsa Bauernhof bei Frau Kääramees, ein Cottage für fünf Personen und weitere Zimmer, 20 Euro pro Person mit Frühstück
maeotsa.maaturism.ee,

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